(English version below)
In seinem Buch Das geteilte Selbst (1972) beschreibt der Psychoanalytiker Ronald D. Laing Selbstbewusstheit als eine Verfasstheit, die auf zwei Formen basiert: „sich seiner selbst bewusst sein und sich seiner als Beobachtungsobjekt eines anderen bewusst sein. Diese zwei Formen der Bewusstheiten des Selbst, als Objekt in den eigenen Augen und als Objekt in den Augen des anderen, hängen eng miteinander zusammen.“1 Im Fall von Robert Bramboras Kopfsilhouetten scheinen diese beiden Formen auf eine unbehagliche Art und Weise ineinanderzugreifen. Denn sobald sich die Betrachtenden in den reflektierenden Oberflächen selbst erblicken, verschmilzt ihr Spiegelbild mit fremden Gesichtsfragmenten. Wie ein dauerhaftes Störsignal setzen sich die unvollständigen Abbilder auf der eigenen Reflektion ab und lassen den Versuch nach Selbsterkenntnis in einen grotesken Moment abdriften, der das eigene Selbst als ein Objekt mit Brüchen und Verzerrungen zurückspiegelt. Einen anderen Versuch nach Erkenntnis bilden Bramboras akribisch recherchierte Texttafeln. In die spiegelnde Lackfläche eingraviert und dicht aneinandergedrängt, verknüpfen die textlichen Versatzstücke spekulative Theorien zum Wohnungsmarkt mit persönlichen Berichten aus Online-Foren über Lebensmodelle im Untergrund. Sie gewähren private Details über Existenzweisen, die von einer prekären Angepasstheit an politische oder ökonomische Zwänge erzählen. In ihrer Form erinnert die kartografische Darstellung aus entfernten oder nebeneinander verlaufenden Realitäten an ein Psychogramm, das die absurden Auswüchse einer gesellschaftlichen Ordnung zu ergründen versucht. Es ist eine tiefe Faszination für die körperliche und psychische Belastbarkeit von Individuen, die sich sowohl in Bramboras Kopfsilhouetten als auch Texttafeln abzeichnet.
In Das geteilte Selbst erklärt Laing weiter, dass schizophrenes Verhalten nicht schlicht eine Geisteskrankheit ist, sondern eine spezielle Strategie, die jemand erfindet, um einer unerträglichen Situation standhalten zu können. Eine solche Abwehrhaltung beschreibt Laing am Beispiel eines Patienten folgendermaßen: „Er konnte, fühlte er, er selbst sein mit anderen, wenn diese nichts über ihn wussten. Das war jedoch eine Bedingung, die nicht leicht zu realisieren war. Es bedeutete in eine andere Gegend gehen zu müssen, wo er ein »Fremder« war. Er würde von Ort zu Ort gehen und niemals so lange bleiben, um gekannt zu werden, jedesmal unter anderem Namen. Unter diesen Bedingungen konnte er (beinahe) glücklich sein – für eine Weile […] Er konnte eine verkörperte Person sein, wenn er wirklich inkognito war.“2 Laing verdeutlicht an dieser Abwehrhaltung einen Entkopplungsversuch von allem, das von einem anderen wahrgenommen, registriert oder erwartet werden kann. Was sich an dem skizzierten Verhalten besonders zeigt, ist die Entfremdung von der eigenen Identität und den eigenen Bedürfnissen, um die Ansprüche der Außenwelt zu bewältigen.
Jenes instabile Verhältnis zwischen der Innen- und Außenwelt bzw. Individuum und Gesellschaft bildet auch den Kern von Bramboras Arbeiten und entfaltet sich gleichzeitig zu einer inneren Logik, die alle inhaltlichen und formalen Entscheidungen durchdringt. Denn trotz ihrer klaren Konturen verbinden sich die einzelnen Arbeiten zu einer zusammenhängenden Architektur. Ihre spiegelnden Oberflächen inszenieren einen verschachtelten Raum, in dem sich – abhängig von der körperlichen Bewegung der Betrachtenden – immer wieder neue Formen konstituieren. Einerseits alles und jede:n in ihrem Umraum erfassend, andererseits leer und substanzlos, spielen die reflektierenden Materialien auf genau jene Unsicherheit zwischen Innen und Außen an. Dabei ziehen sie den Blick auf sich, ermöglichen Einblicke, irritieren und werfen den Blick wieder zurück. Indem die spiegelnden Effekte auch immer den Blick eines anderen simulieren, verweisen sie schließlich auf die Gefahr der eigenen Objektivierung und die Kontrolle durch gesellschaftliche Zwänge.
Es ist ein seltsames Nebeneinander von Intimität und Zurückweisung, das auf diese Weise von Bramboras Konstellation aus spiegelnden Objekten aufgespannt wird. Die Gegenüberstellung der Kopfsilhouetten und Texttafeln greift gewissermaßen die doppelte Position des Körpers auf, der Zentrum der eigenen Welt und zugleich Objekt für andere ist. Während die Arbeiten die Gedankenwindungen eines getriebenen Selbsts zum Vorschein kommen lassen, schärfen sie gleichzeitig die Wahrnehmung für eine Seinsform, die in einem Geflecht von analogen, virtuellen sowie ökonomischen Beziehungen und Abhängigkeiten verstrickt ist – hin- und hergerissen zwischen der Flucht in die Anonymität und der Sehnsucht nach gemeinschaftlicher Bindung.
1 Ronald D. Laing: Das geteilte Selbst. Eine existenzielle Studie über geistige Gesundheit und Wahnsinn, 1972, S. 131.
2 Ebd. S. 159.
Text: Susanne Mierzwiak, 2021
In his book The Divided Self (1972), psychoanalyst Ronald D. Laing describes self-consciousness as a state based on two forms: “An awareness of oneself by oneself, and an awareness of oneself as an object of someone else’s observation. These two forms of awareness of the self, as an object in one’s own eyes and as an object in the other’s eyes, are closely related to each other.”3 In Robert Brambora’s head-silhouettes, these two forms are unsettlingly intertwined. As we catch a glimpse of ourselves in their reflective surface, our mirror image merges with fragments of an extraneous face. These incomplete likenesses settle on our reflection like a continuous interference and tip our attempt at self-recognition into the grotesque, as we find ourselves reflected back as objects fraught with fractures and distortions. Brambora’s meticulously researched text panels represent another attempt at cognizance. Fragments of text, closely arranged and engraved into the reflective lacquer surface, combine speculative housing market theories with personal reports from online forums on models for subterranean living. These private details on modes of existence reveal a precarious conformity to political or economic constraints. In their form, the cartographic depictions of these distant or juxtaposed realities are reminiscent of psychograms that attempt to shed light on the absurd excrescences of a social order. Brambora’s head-silhouettes and text panels reveal his deep fascination for the physical and psychological resilience of the individual.
In The Divided Self, Laing further argues that schizophrenic behavior is not simply a mental illness, but a special strategy individuals develop in order to live in an unlivable situation. Using the example of one patient, Laing describes this type of defensive method as follows: „He could, he felt, be himself with others if they knew nothing about him. This was, however, a requirement that demanded exacting fulfillment. It meant that he had to go to another part of the country where he was a ’stranger‘. He would go from place to place, never staying long enough to be known, each time under a different name. Under these conditions he could be (almost) happy – for a while. […] He could be an embodied person if he was really incognito.“ 4 With this behavior, Laing illustrates the attempt to disengage from anything that can be perceived, registered, or expected by another.
The alienation from one’s own identity and needs as a means for coping with the demands of the outside world is demonstrated by this defensive behavior. This unstable relationship between the inner and outer world, or between the individual and society, forms the core of Brambora’s work, where it has developed its own inner logic, permeating all his decisions regarding content and form. His individual works, despite their clear contours, are interconnected and form a coherent architecture. Their reflective surfaces create convoluted spaces in which – depending on our physical movement – new forms are constantly shaped. On the one hand, they record everything and everyone in their surroundings, on the other hand their mirrored materiality is empty and insubstantial, and insinuates precisely this uncertainty of interior versus exterior. They draw us in, give insight, perplex, and cast our gaze back again. Ultimately, by always simulating the gaze of the other, the mirroring effect refers to the danger of being objectified and controlled by societal constraints.
Brambora’s constellation of reflective objects generate an extraordinary coexistence of intimacy and rejection. In a sense, the juxtaposition of the head-silhouettes and text panels address the dual status of the body: as the center of one’s own world, and an object for others. While the works reveal the twists and turns of a driven self, they also heighten the perception for an existence that is entangled in a web of analog, virtual, and economic relationships and dependencies – torn between flight into anonymity and the longing for communal connection.
3 Ronald D. Laing: Das geteilte Selbst. Eine existenzielle Studie über geistige Gesundheit und Wahnsinn, 1972, p. 131.
4 Ibid. p. 159.
Text: Susanne Mierzwiak, 2021 – translated by Anne Fellner