(English version below)
– Nie werde ich von euch allen genug haben, sagte Sara, nie.
– Ach weißt du, sagte Diana, das ist die Sache eines Augenblicks, oft eines ganz kurzen Augenblicks.
Marguerite Duras, Die Pferdchen von Tarquinia, 1953
Dieser kurze Dialog beschreibt ein plötzliches Erkennen, das durch ein Wort, einen Blick oder eine Wiederholung ausgelöst wird und eine Wendung herbeiführt.
Innerhalb eines Augenblicks fallen mehrere Dinge zusammen und verändern den Blick auf das Gewohnte. Aus dem kurzen Blick kann jedoch auch ein langanhaltender, ein nicht endender werden, wenn er sich in der Gegenwart mit Schichten aus dem Gedächtnis überlagert. Im langen Blick, dem Schauen, steckt dann die ewige Erinnerung an den kurzen Augenblick.
In der Arbeit von Sabine Hornig fallen auf subtile Weise Bild und Skulptur, Perspektiven und Zeiten zusammen. Ihre Skulpturen und Fotografien – oft profane, leicht zu übersehende Architekturen oder vom Stadtraum aus aufgenommene Schaufenster – staffeln Schichten vor- und übereinander, die das Historische und das Erinnerte erahnen lassen, um es in einem einzigen Blick zusammen mit dem Neuen in der Jetztzeit ans Licht zu bringen.
So auch in den zwei Blumenstillleben in der Galerie Tobias Naehring, die jeweils im quadratischen Rahmen auf einem Stativ stehen.
Stativ II zeigt eine Vase mit Blumen in einem von außen fotografierten Fenster. Im Hintergrund ist die Spiegelung eines Gebäudes mit kleinen Fenstern zu erkennen. Das Bild ist mit einer Glasscheibe rahmenlos verbunden, der Bildrahmen ist kein Bilderrahmen, sondern begrenzt als fotografierter Fensterrahmen das Bild. Dieses hängt nicht an der Wand, sondern steht vor der Wand auf dem Stativ aus Metall, das an ein Fotostativ erinnert.
Die hochrealistischen Blumenstillleben in den Vasen treten vor die Wand und aus dem Rahmen heraus. Sie werden umgehbar. Tritt man näher heran, erkennt man, dass das Bild transparent ist, ein Diapositiv, und so von beiden Seiten aus betrachtet werden kann. Ohne eine Rückseite wirft das Bild mit zwei Vorderseiten einen Schatten in den Raum.
Das im Foto eingefrorene Stillleben auf dem Stativ, wie es hier als gläsernes Objekt janusköpfig im Raum steht, ist ein Paradox: Seine zwei Seiten – jede spiegelverkehrt zur anderen – ermöglichen ein Voraus- und ein Zurückblicken und damit die Durchsicht in den Raum.
Der dunkle Hintergrund von Stativ II und die malerisch welken Blätter erinnern an Blumenstillleben aus dem 17. Jahrhundert. Anstatt sich jedoch den Betrachtenden vollständig zu öffnen, wenden sich alle Blütenkelche von ihnen ab und dem dunklen Bildinnenraum zu.
Nachtfenster II thematisiert die veränderten Wahrnehmungen von Zeit und Räumen in Zeiten des pandemischen Lockdowns.
Ein frei stehender Rahmen deutet ein großes Fenster an. Er hält eine diagonal zu ihm stehende dunkel bedruckte Glasscheibe wie eine offene Tür. In ihren Proportionen entsprechen der Rahmen und die Scheibe der Tür und dem Fenster einer Wohnung. Sie markieren die Schwelle zwischen Innen und Außen.
Auf der Glasscheibe sind in vielen kleinen Fenstern unterschiedlich hell beleuchtete Räume zu erkennen, in denen Menschen nebeneinander leben. Von beiden Seiten kann man durch die Fenster und durch die kleinen Räume dahinter hindurchsehen. Die Ansicht der sich in ihren Interieurs nebeneinander bewegenden Menschen erzeugt ein Bild von der individuellen und der kollektiven Erfahrung des Moments.
Seit Ende der 1990er-Jahre entwickelt Sabine Hornig eine eigene Form von Fotoarbeiten und Skulpturen zu einem komplexen, oft begehbaren Gefüge aus Raum und Bild. Im Blick durch ein transparentes Bild verdichten sich verschiedene Perspektiven von zeitlichen und räumlichen Ebenen zu einem Raum, der philosophische und zeitgeschichtliche Fragen eröffnet.
Hornigs Arbeiten wurden in zahlreichen Institutionen im In- und Ausland gezeigt, etwa in der Pinakothek der Moderne, München, im Museum Boijmans van Beuningen, Rotterdam, in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen und im Museum of Modern Art, New York.
Im vergangenen Jahr wurde im New Yorker LaGuardia Airport Sabine Hornigs große Glasarbeit La Guardia Vistas fertiggestellt.
– I will never have enough of you all, said Sara, never.
– Oh, you know, said Diana, it’s a matter of a moment, often a very short moment.
Marguerite Duras, The Little Horses of Tarquinia, 1953
This brief dialogue describes a sudden realization, which, triggered by a word, a glance, or a repetition, can bring about a different turn of events.
In a single moment, several factors coincide and alter the view of the familiar. From this brief moment, however, a long, unending one can emerge, when saturated with layers of memory in the present. This drawn-out moment, this continuous gaze contains the eternal memory of a brief glance.
In Sabine Hornig’s work, image and sculpture, perspectives and moments in time, subtly coincide. Her sculptures and photographs – often mundane, easily overlooked architectures or shop windows photographed in urban space – are layered in front and on top of each other and elude to the historical and the remembered. Merged with the new, a single moment brings them into the present.
This is also true for the two floral still lives in Galerie Tobias Naehring, each positioned in a square frame on a tripod.
Stativ II (Tripod II) displays a vase of flowers in a window, photographed from the outside. In the background the reflection of a building with small windows is visible. The image is fastened to a frameless glass pane – the image’s frame is not a picture frame, but a photographed window frame, which forms a border. It isn’t hung on the wall, but stands in front of it on a metal stand, which resembles a camera tripod.
The highly realistic still lives of flowers in vases emerge from the wall and out of the frame. They become circumnavigatable. Stepping closer, we discover that the image is transparent, a diapositive, and can be viewed from both sides. Without a back, the double-faced image casts a shadow into the room.
The frozen still life in the photograph on the tripod, which stands here as a glass, Janus-faced object in space, is a paradox: its two sides – each a mirror image of the other – allow the viewer to look both ahead and back, and provide a view through it and into the space.
The dark background of Stativ II (Tripod II) and its painterly, wilted leaves are reminiscent of 17th-century floral still lives. However, instead of opening its blooms to the viewer, all the flower heads are turned away from us, into the dark interior of the image background.
Nachtfenster II (Night Window II) explores the changing perceptions of time and space during the pandemic lockdown.
A free-standing frame suggests a large window. It contains a glass pane featuring a dark print, which is positioned diagonally to it – like an open door. The frame and pane are proportionate to the door or window of an apartment. They mark the threshold between inside and outside.
The glass pane features many small windows that show rooms illuminated by varying degrees of light, where people live next to each other. It’s possible to see through the windows from both sides and into the small rooms behind them. This view of people moving alongside each other inside the interiors, generates the image of the individual and the collective experience of a moment.
Since the late 1990s, Sabine Hornig has developed her signature practice of combining photographic works and sculptures into complex, often walk-in structures composed of space and image. As we look through the transparent image, different perspectives of temporal and spatial layers condense and form a space that introduces issues of philosophy and contemporary history.
Hornig’s work has been shown in numerous institutions both in Germany and abroad, including the Pinakothek der Moderne, Munich, the Museum Boijmans van Beuningen, Rotterdam, the Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, and the Museum of Modern Art, New York.
Last year, Sabine Hornig’s large glass work La Guardia Vistas was installed in New York at the LaGuardia Airport.
More information about Sabine Hornig:
www.sabine-hornig.de