Installation view: Sophie Schmidt, ‘Bauchvorhangöffnung’, September 3 — October 30, 2021, Galerie Tobias Naehring, Berlin

Installation view: Sophie Schmidt, ‘Bauchvorhangöffnung’, September 3 — October 30, 2021, Galerie Tobias Naehring, Berlin

Installation view: Sophie Schmidt, ‘Bauchvorhangöffnung’, September 3 — October 30, 2021, Galerie Tobias Naehring, Berlin

Installation view: Sophie Schmidt, ‘Bauchvorhangöffnung’, September 3 — October 30, 2021, Galerie Tobias Naehring, Berlin

Installation view: Sophie Schmidt, ‘Bauchvorhangöffnung’, September 3 — October 30, 2021, Galerie Tobias Naehring, Berlin

Installation view: Sophie Schmidt, ‘Bauchvorhangöffnung’, September 3 — October 30, 2021, Galerie Tobias Naehring, Berlin

Installation view: Sophie Schmidt, ‘Bauchvorhangöffnung’, September 3 — October 30, 2021, Galerie Tobias Naehring, Berlin

Installation view: Sophie Schmidt, ‘Bauchvorhangöffnung’, September 3 — October 30, 2021, Galerie Tobias Naehring, Berlin

Installation view: Sophie Schmidt, ‘Bauchvorhangöffnung’, September 3 — October 30, 2021, Galerie Tobias Naehring, Berlin

Installation view: Sophie Schmidt, ‘Bauchvorhangöffnung’, September 3 — October 30, 2021, Galerie Tobias Naehring, Berlin

(English version below)

Bauchvorhangöffnung – Zum Performativen in den Papierarbeiten von Sophie Schmidt

Von Wasser umgeben und durchdrungen, so lässt sich der Zustand der Künstlerin Sophie Schmidt während ihrer Residenzen in den Städten Venedig und Taipeh im Jahr 2021 beschreiben. Die hohe Luftfeuchtigkeit und das subtropische Klima in den Inselstädten haben bewirkt, dass Wasser die Haut der Künstlerin konkret und metaphorisch durchdrungen hat. Diese osmoseartige Durchdringung äußert sich in der Collage Wieviel Venedigwasser ist noch in deinen Beinen, Ursula? (50 × 65 cm), die nach Sophie Schmidts Ankunft in Taipeh entstanden ist. Pandemiebedingt kafkaesk in einem Hotelzimmer isoliert, reflektierte die Reisende das in Venedig Erlebte und beschäftigte sich mit der Figur eines Gemäldes, das sie in Venedig gesehen hatte. Vittore Carpaccios Der Traum der Heiligen Ursula (1495) zeigt eine schlafende junge Frau in einem Bett.

Im linken Bildvordergrund zeichnet Sophie Schmidt um das Foto der schlafenden Ursula eine stilisierte ionische Säule mit Blattwerk am Volutenkapitell. Hinter dieses Renaissance- Ensemble kombiniert sie eine zweite Ursula-Figur mit der Fotografie eines Hotelbetts. Es steht vor einem Fenster, das auf die taiwanesische Landschaft weist. Über beiden Frauenfiguren wacht ein mit Tusche und zarten Pinselstrichen geschaffener Markuslöwe, dessen Flügel sich in gelbe Wolken auflösen.

Der Schutzpatron der Lagunenstadt vereint die Dichotomie Renaissance Venedig/Gegenwart Taipeh und gibt eine Antwort auf die im Bildtitel formulierte Frage: die Durchdringung mit venezianischem Bildformular zeigt, dass das ‚Venedigwasser‘ in Taipeh metaphorisch noch vorhanden ist. Gleichzeitig bildet der Löwe eine Brücke zum zweiten Bildraum: die rechte Bildhälfte füllt das Schwarzweißfoto einer großzügigen Bibliothek, deren Muranoleuchter und aufwendige Wandbespannungen auf das Interieur eines venezianischen Palastes schließen lassen.

Im Text zur Collage schreibt Sophie Schmidt dazu: „Heilige Ursula! Bist du bereit? Ich bin es, die Radicchiofrau. Aus dem Palazzo komme ich zu Dir, besuche Dich in deinem Taipehbett.“ Dem Duktus der Handschrift lässt sich entnehmen, dass die Gedanken von Sophie Schmidt unmittelbar erfolgen und direkt in ihre Arbeit einfließen. Die längere Textpassage schließt im Fenster und so erhält das letzte Wort eine exponierte Bedeutung: „Beichtstuhlkleid“. Es bezieht sich auf die weibliche Figur, die überlebensgroß aus Farb- und Schwarz- weißfotografien auf die Bibliothek collagiert wurde. Über einem hölzernen Beichtstuhl und einem mit weitem Vorhang ausgestatteten marmornen Dogengrabmal erhebt sich eine zarte, nackte weibliche Figur, deren Oberkörper und Gesicht mit weißen Binden beklebt sind.

Die federartige dunkelrote Zikorie in ihrer Hand identifiziert sie als die im Text genannte ‚Radicchiofrau‘, deren prothesenartige Erweiterung ihres Körpers die verschiedenen Narrative miteinander verbindet. Mehr noch: durch die Weiterführung mit voluminösen Aquarellstrichen erfährt sie eine Dynamisierung und bringt pandoraartig die venezianische Farb- und Formpracht hervor. So wirkt die Venedig-Radicchiofrau mit ihrem Beichtstuhlbauch wie eine Dea ex machina, eine unerwartete göttliche Gestalt, die effektvoll in das Taipeh-Szenario
eingreift. In Bezug auf Vittore Carpaccios Ursula-Gemälde lässt sich diese Figur als Engel deuten, der der Schlafenden eine düstere Zukunft voraussagt. Doch Sophie Schmidt liefert im Text eine zugewandte apotropäische Bedeutung zum Schutz der Schlafenden: „Hab keine Angst, Ursula.“

In der Radicchiofrau erkennt man die Künstlerin selbst, die performativ ihren Körper als Medium zur Kunst macht und das Geschehen lenkt. Dabei ist Sophie Schmidt, die die imaginäre Bühne ihres Hotelzimmers bespielt, nicht nur Akteurin, sondern auch Zuschauerin, wie die Collage Schau, ich habe die Vorhänge meines Bauches aufgezogen für dich. Siehst du das Licht in der Empore? (65 × 50 cm) verdeutlicht. Im Bildvordergrund ragt das sorgfältig ausgeschnittene Foto von zwei angewinkelten Knien hervor, ein Bildmotiv, das sie bereits in früheren Arbeiten verwendet und als ‚Knieberge‘ betitelt hat. Als Zuschauerin befindet sich Sophie Schmidt – wie die Betrachter – außerhalb des Bildraumes, nur ihre Beine ragen hinein. Folgen wir ihrer Perspektive, so sehen wir in der Bildmitte wieder ein Fotofragment der mit Binden beklebten und anonymisierten Künstlerin, die zuvor als Radicchiofrau aufgetreten war.

In dieser Collage liegt der Fokus weniger auf Sophie Schmidts ‚Körperweitungen‘ – mit Fragmenten von Körperweitungen und Prothesen ihrer Performances wie die ‚Venedigvogelmaschine‘ – als vielmehr auf dem aufwendig konstruierten Unterkörper. Im Text heißt es in der direkten Anrede der Akteurin an die Zuschauerin: „Siehst du das Licht in der Empore? Es leuchtet aus dem Beichtstuhlbauch, golden, mit Faltenwürfen.“ Diese antwortet ablehnend: „Ich brauche deinen Beichtstuhl nicht. Schenk ihn der heiligen Ursula (…).“ Die Theatralik dieses Zwiegesprächs erinnert an das Libretto ihrer Oper Über die Tragik des menschlichen Körpers (München 2020), in der sie Geschichten aus dem Körper heraus erzählt. Unter diesem Aspekt könnten die Taipeh-Collagen, die auf täglichen Notizen zu intimen Gedanken, Sehnsüchten und Ängsten basieren, als eine Art ‚Beichtstuhloper‘ gedeutet werden. Denn ihr hybrider Körper wird hier zum Bühnenraum, bei dem sie die ‚Bauchvorhangöffnung‘ zelebriert. Die Öffnung über die Grenzen der Haut hinaus ist stets eine Verwicklung, Verbindung und Einfühlung im Sinne von Körperweitung und erfolgt mit verschiedenen Elementen wie Radicchioblättern, Insekten- und Vögelkörpern, Fischen und Landschaften oder architektonischen Räumen.

Wie eine Apotheose, eine göttliche Verklärung, erscheint schließlich die Komposition der Taipehmadonna (78 × 106 cm). Ausgehend von der aquarellierten Körperweitung der Radicchiofrau entwickelt sich eine explosionsartige Vervielfältigung der Zikorienblätter, deren Tuschefedern sich volutenähnlich gedreht über das gesamte Bild verteilen. Die in der Collage eingearbeiteten Fotofragmente wie die Fassade des Dogenpalastes, der in einer Tonne fotografierte Künstlerkollege oder die hölzerne Palastdecke, verlieren ebenso an Bedeutung, wie die Aufnahmen des taiwanesischen Hotelzimmers. Der malerische Anteil gewinnt mit dem voluminösen, farblich akzentuierten Pinselstrich so stark an Gewicht, dass der Vergleich zu den zuvor in Venedig entstandenen, großformatigen Gemälden von Sophie Schmidt augenscheinlich wird. Die Taipehmadonna verweist mit ihrem breiten, ausladenden, vorhangähnlichen Rock auf die Karpfenmadonna (Acryl auf Leinwand, 200 ×  160 cm), die auf die venezianische Schutzmantelmadonna rekurriert, die in ihrem Schoß die Gläubigen aufnimmt. Gleichzeitig erinnert die energiegeladene, wellenartige Aufwärtsbewegung der Blätter an das ebenfalls in Venedig geschaffene Bild Assunta (Acryl auf Leinwand, 200 × 160 cm). Diese in starker Farbigkeit gestaltete Frauenfigur wird, umgeben von Fischen und Vögeln, in die Höhe gezogen und lässt ikonographische Bezüge zur Malereigeschichte Venedigs ins Bild treten, wie beispielsweise Tizians berühmtes gleichnamiges Altargemälde von 1516.

So gipfelt der Zyklus der Taipeh-Collagen in einer Transformation der Protagonistin von der Venedigmadonna zur Taipehmadonna bis sie – ähnlich einer Insektenlarve, die ihren Kokon verlässt – nach der dreiwöchigen Isolation schließlich in der taiwanesischen Kultur in einer neuen Form auftritt, die sie auch als großformatiges Wandgemälde gestaltet: Die Papayafrau. Mit dieser neuerlichen Metamorphose findet Sophie Schmidt zu einer leichten, hellen und freudigen Farbigkeit, welche auch die darauffolgenden Karten charakterisiert, die wie ein Tagebuch ihre Erfahrungen in Taipeh zeigen. In der Collage Draußen, hinter dem Fenster: Die Bäume haben lange Haare, es dampft aus den Straßen und aus den Mündern der Drachen (78 × 106 cm) bildet diese Farbigkeit bereits das Fundament für die Frauenfigur, die nun, mit teils venezianischen Flügeln ausgestattet, das Hotelzimmer hinter sich lassen und abheben kann, um in das ihr unbekannte Land zu fliegen.

– Petra Schaefer, Venedig, im August 2021

 

 

Surrounded and pervaded by water—this describes Sophie Schmidt’s situation during her 2021 residencies in the cities of Venice and Taipei. The high humidity and subtropical climate of these island cities caused the artist’s skin to be permeated with water, both physically and metaphorically.

This osmotic penetration is expressed in the collage Wieviel Venedigwasser ist noch in deinen Beinen, Ursula? (How Much Venetian Water Remains in Your Legs, Ursula?) (50 × 65 cm), which Schmidt executed after her arrival in Taipei. During a pandemic-related, Kafkaesque isolation in her hotel room, the traveler reflected on her experiences in Venice and contemplated the figure of a painting she had seen there: Vittore Carpaccio’s Dream of St. Ursula (1495) depicting a young woman asleep in bed.

In the left foreground, Sophie Schmidt draws a stylized Ionic column around the photograph of the sleeping Ursula, its volute capital resplendent with foliage. Behind the Renaissance ensemble, she combines a second Ursula figure with a photograph of a hotel bed standing in front of a window that looks out onto the Taiwanese landscape. St. Mark’s lion watches over both female figures. Rendered in ink and delicate brushstrokes, its wings dissolve into yellow clouds.

The dichotomy of Renaissance Venice/present day Taipei is united by the patron saint of the lagoon city, who also provides a possible answer to the question formulated in the work’s title: its saturation with Venetian imagery proves that the ‚Venetian water‘ is indeed still metaphorically present in Taipei. The lion additionally forms a bridge to a second visual space: the right half of the collage features the black and white photograph of a lavish library, its Murano chandeliers and elaborate wall hangings suggest the interior of a Venetian palace.

In the collage’s text, Sophie Schmidt writes: „Saint Ursula! Are you ready? It is I, the Radicchio Woman. From the palazzo I come to you, I visit you in your Taipei bed.“ Judging from the penmanship, we can assume that Sophie Schmidt’s thoughts are instantaneous and flow directly into her work. The longer passage of text ends at the window, and the last word is granted with exposed significance: “Beichtstuhlkleid” (“confessional dress”). It refers to the larger than life female figure that has been collaged from colored and black-and-white photographs onto the library. A delicate, nude female figure rises above a wooden confessional and a marble doge’s tomb featuring a wide curtain, her upper body and face are covered with white bandages.

The feathery, dark red chicory in her hand identifies her as the ‚Radicchio Woman‘ from the text. Her body’s prosthetic-like extension connects the various narratives and beyond. Extended ever further with voluminous watercolor strokes, it undergoes a vitalization, Pandora-like in its production of Venetian splendor in color and form. Thus, the Radicchio Woman of Venice and her confessional belly are like a Dea ex machina, an unexpected divine figure, who dramatically intervenes in the Taipei scenario.

In the terms of Vittore Carpaccio’s Ursula painting, the figure can be interpreted as an angel predicting a gloomy future for the sleeping woman. In the text, however, Schmidt gives the figure a caring, apotropaic role, protecting the sleeper: „Don’t be afraid, Ursula.“
The Radicchio Woman could be the artist herself, who performatively transforms her body into a medium for art and steers the narrative. Schmidt, performing on the imaginary stage of her hotel room, is not only an actor but also a spectator, as illustrated by the collage Schau, ich habe die Vorhänge meines Bauches aufgezogen für dich. Siehst du das Licht in der Empore? (Look, I have opened the curtains of my belly for you. Can you see the light in the gallery?) (65 × 50 cm). In the foreground of the picture, the carefully cropped photograph of two bent knees stands out, a visual motif she has used in earlier works and calls ‚knee mountains‘. Like the viewer, Schmidt is located outside the pictorial space, with only her legs jutting into it. If we follow her perspective, we see a photo fragment of the artist at the center of the picture, now anonymous and covered with bandages after her previous appearance as Radicchio Woman.

In this collage, the focus lies less on Schmidt’s ‚body extensions’—fragments of extensions and prostheses from performances such as the ‚Venedigvogelmaschine‘ (‘Venice-Bird- Machine’)—but rather on the elaborately constructed lower body. In the text, the performer directly addresses the spectator, „Do you see the light in the gallery? It shines from the confessional belly, golden, in folds.“ The latter replies dismissively, „I don’t need your confessional. Give it to St. Ursula (…).“ The theatricality of this dialogue resembles a libretto of her opera Über die Tragik des menschlichen Körpers (On the tragedy of the human body) (Munich 2020), where she recounts stories from inside the body. From this perspective, the Taipei collages, which are based on daily notes about intimate thoughts, longings and fears, might be interpreted as a kind of ‚confessional opera‘. Here, her hybrid body becomes a stage, where the ‘Belly-Curtain-Opening’ is celebrated. To open oneself up beyond the boundaries of the skin is invariably an embroilment, a consolidation, and an empathy in the sense of body expansion, and is performed with various elements such as radicchio leaves, the bodies of insects and birds, fish and landscapes, or architectural spaces.

Lastly, the composition of the Taipehmadonna (Taipei Madonna) (78 × 106 cm) appears like an apotheosis, a divine transfiguration. From the watercolored expansion of the Radicchio Woman’s body, an explosive multiplication of chicory leaves erupts. In volute-like twists, their inked plumes spread across the entire picture. Gradually, the photographic fragments that are worked into the collage, such as the façade of the Doge’s Palace, the artist’s colleague photographed in a garbage can, or the wooden ceiling of a palace, lose their significance. The same is true for the photographs of the Taiwanese hotel room. The painting elements, on the other hand, acquire a considerable gravitas with their voluminous, colorfully accentuated brushstrokes, and the connection to Schmidt’s large-format paintings, executed earlier in Venice, becomes apparent. The Taipei Madonna, with her broad, sweeping, curtain-like skirt, resembles the Karpfenmadonna (Carp Madonna) (acrylic on canvas, 200 × 160 cm). Here, the artist refers to the Venetian Virgin of Mercy, who welcomes the faithful into her lap. While
the energetic, undulating upward movement of the leaves echoes the painting Assunta (acrylic on canvas, 200 × 160 cm), which was also painted in Venice. Here, a female figure, painted in intense color, hovers in the air, encircled by fish and birds, and draws on iconographic references from Venetian painting history such as Titian’s famous altarpiece of the same title from 1516.

The series of Taipei collages culminates in the transformation of the protagonist from the Venice Madonna to the Taipei Madonna, when, after three weeks of isolation, she finally appears in a new form in the Taiwanese culture—like an insect larva hatching from its cocoon. A scene she also produced as a large-format wall painting: Die Papayafrau (The Papaya Woman). With this metamorphosis, Schmidt discovers a light, bright, and joyful palette that also characterizes the works that follow, which illustrate her experiences in Taipei in a diary-like fashion. In the collage Draußen, hinter dem Fenster: die Bäume haben lange Haare, es dampft aus den Straßen und aus den Munden der Drachen (Outside, beyond the window: the trees have long hair, it steams from the streets and from the mouths of dragons) (78 × 106 cm), this palette forms the foundation for a female figure, who now, equipped in part with Venetian wings, is able to leave the hotel room behind and fly off into a land unknown to her.

– Petra Schaefer, Venice, August 2021

Translation: Anne Fellner